Heinz Boock „Mr. Meteor“ ist für immer von uns gegangen

 

Eines war ihm bereits als Schüler und junger Sportler klar. Es konnte nie halbe Sachen geben. Nur wenn der Ball die Torlinie voll überschritten hatte, galt es wirklich. Alles andere war nur Gerede von Unwissenden. Niemand kam ja auch auf die Idee, dass das Luzerneheu, eines der ältesten Futtermittel, nur zum Teil aus dem Eisenbahnwaggon abgeladen werden könnte. Die Frage stellte sich nicht. Arbeitskräfte waren knapp 1948. Sein Vater hatte ihm daher aufgetragen, sofort nach der Rückkehr vom Menzel-Gymnasium den Waggon zu leeren. Allein. Die Trabrennpferde vom „Gestüt Boock“ waren darauf angewiesen. Für mehr als 500000 Reichsmark hatte Heinz Boocks Vater das Gestüt und die Stallungen von Irmgard von Opel um 1947 gegen Barzahlung erstanden. Der Umzug von Stendal nach der bedeutenden Rennbahn Hoppegarten, keine Trabrennbahn, wie oft vermutet, war durch die Lage Stendals im sowjetisch kontrollierten Teil Deutschlands nötig geworden. Als Landwirte schon lange in der Altmark ansässig, hatten die Boocks nicht das Glück, durch eine Pferdewette reich geworden zu sein, sondern durch eine Züchtung. Ihr Spitzengaul, die Stute „Alwa“, hatte genau am Tag des Kriegseintritts gegen die Sowjetunion am 22.Juni 1941 noch einmal den großen Preis gewonnen. Überhaupt ging das Leben auch für den kleinen Heinz, Jahrgang 1929, während der Kriegsjahre ohne Not weiter. 1944 reisten seine Mutter und er noch an die Ostsee. Sie bezahlten ihren Aufenthalt mit Naturalien im Voraus an die Gastgeber. Wie immer nur allein mit ihr war er auf Reisen. Vater Boock, ein Landwirt, und Urlaub? Daran war überhaupt nicht zu denken.

Im April 1945 dann der Schock. Alle, die sich noch nicht als Freiwillige gemeldet hatten, wurden jetzt direkt zur Wehrmacht einberufen. Schon hier begann der Fußball eine besondere Rolle zu spielen. Heinz` Vater, der Kassierer bei Viktoria Stendal war, sollte einen Ball ins Ausbildungslager nach Gardelegen bringen. Stattdessen kam die Mutter mit dem Spielgerät in der Hand. Nur ihren Sohn sah sie hier nicht mehr. Der war schon weitergezogen. Dem Vater ließ das keine Ruhe. Mit einer geliehenen Waffe in der Aktentasche machte er sich auf die Suche. Das Unglaubliche geschah: Er traf seinen Sohn und dessen Gruppe auf der Straße.

Sie sollten Beutegranaten aus einem Bunker holen. Heinz war nur zufällig dabei, weil er als 15-Jähriger zu den Kleineren gehörte. Nach viel Hin und Her auf einem bewachten Gelände, feierte Heinz Boock hier seine zweite Geburt. „Ein Glück, das man sich kaum vorstellen kann; da passte alles“, sagte er einmal. Vater und Sohn machten sich ohne Gebrauch der Waffe aus dem Staub. Heinz zog die mitgebrachten Lederhosen an. Sah wieder aus wie ein Junge und war gerettet.

Im nächsten Dorf waren schon die Amerikaner. Dass er nun als Deserteur galt, hat ihm später im Lebenslauf nicht nur Sympathien bei den ewig Gestrigen eingebracht. Die Stuten des Rennstalls hätten eine kenntnisreiche Aufmerksamkeit von einem Familienmitglied benötigt. Ein Veterinärstudium sollte es also sein. Dazu kam es nie. Heinz hatte einfach zu wenig Zeit zum Lernen. Für die Hochschulreife reichte es gerade noch.

Die magische Kugel hatte aber schon begonnen, ihren Einfluss einzubringen. Sein Sportlehrer an der Menzelschule, Kurt Böhnke, der spätere 2. Vorsitzende des Bundes Deutscher Fußballlehrer, bat ihn um Hilfe bei der Betreuung einer Mannschaft. Von da an sah er die Förderung von Kindern und Jugendlichen als eine Aufgabe an, die ihn nie wieder loslassen sollte. Zwar gab es auch andere Interessen, wie die Opern Giuseppe Verdis, über den Ball und seine Geheimnisse ging aber nichts. „Für mich ist Fußball weit über alle Krakelerei in den Stadien hinaus eine Wissenschaft“, bemerkte er später einmal.

Seit 1959 war er in der Leitung, als Trainer und Mäzen beim Weddinger Verein BFC Meteor 06. Viele kannten ihn hier als „Mr. Meteor“. Thomas „Icke“ Häßler verdankt ihm seine Karriere und Heinz verdankte Meteor seine Stelle bei der Berliner Verwaltung. Häßler, der Weltmeister von 1990, lernte beim Weddinger Klub seine ersten Freistoßvarianten. Auch andere Bundesligaspieler wie Wolfgang „Sprotte“ Sühnholz von Bayern München und Dieter Schollbach kickten als D-Junioren zuerst in Heinz Boocks Teams.

Für Streitgespräche mit Mr. Meteor musste man gut vorbereitet sein. Meist sah er Spielzüge und besonders auch Fehler einzelner Akteure weit voraus. So war er davon überzeugt, dass nicht das Team, das am besten zusammenhält, ein Spiel gewinnt, sondern immer die überragenden Individualisten für die Entscheidung sorgen. Ein Einzelkämpfer war auch er. An ein Zusammenleben mit einer Frau dachte er nicht im Traum. „Soll ich mir dann abends sagen lassen, wo der Platz für die Pantoffeln ist?“, fragte er gelegentlich ohne Leidensdruck. Tatsächlich war für tiefere Beziehungen zu einem Menschen in seinem Leben kein Platz. Männliche oder weibliche Freunde gab es somit nie. Er hatte ja die Jungen in den Mannschaften. Brauchten die nicht die volle Aufmerksamkeit? Besonders sein späterer Adoptivsohn Güray „Hacki“ Sen. Für die ehrenamtliche Bewährungshilfe eines kriminellen Jugendlichen reichte ein bisschen Einsatz nicht aus. Sen riet ihm später im Scherz, dass er so eine Aufgabe nie mehr übernehmen solle. Für die Heilung des Güray Sen und andere aufopferungsvolle Tätigkeiten wurde Boock das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.

Noch 2014/15 reichte die Kraft als Protagonist für ein filmisches Porträt. Der Kurzfilm „Mr. Meteor geht“ lief im Babylon Kino mit Heinz Boock als Ehrengast. Bis dahin war der fußballerische Sonderling noch Jugendtrainer bei seinem Verein gewesen. Bereits kurz danach, schon nach dem Verlust der Sehkraft eines Auges, war nichts mehr wie vorher. Sein Platz in der Oper blieb leer, auf dem Fußballplatz wurde er immer seltener gesehen. Ein Pflegebett kam in die Wohnung. Das Schlimmste, das ausgerechnet einem Fußballer bevorstehen kann, der Verlust der Beine durch Amputation, war das Worst-Case-Szenario, über das die Ärzte aufklärten. Es ging vorüber wie die Sache mit den Handgranaten. Nur dass Mr. Meteor dieses Mal nicht davonlaufen musste. Er schlief ruhig ein. Am Geburtstag seines Sohnes.

Frank Toebs

Veröffentlicht von

Christian Zschiedrich

Er kann von sich mit Fug und Recht behaupten, immer ein Leben für und durch den Sport geführt zu haben. Er spielte Fußball, nicht mal untalentiert, brachte es dabei zu einigen Ehren, studierte Sport in Leipzig, arbeitete als Sportlehrer und trainierte Fußballmannschaften. Zwischendurch erwarb er beim DFB seine Trainerlizenz. Nach und nach entdeckte er dabei sein Herz für den Sportjournalismus, schrieb Artikel für verschiedene Zeitungen und hob in Berlin eine eigene Sportsendung im Lokal-TV aus der Taufe. Über 2.000 Sendungen wurden unter seiner Leitung produziert. An`s Aufhören verschwendet er keinen Gedanken, schließlich bietet das Internet viele neue Möglichkeiten.

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